Glückwünsche von Prof. Dr.-Ing. Dr.-Ing. Eh. Fritz-Rudolf Güntsch zu Zuses 85. Geburtstag

Lieber Kuno,

gern ergreife ich die Gelegenheit, die mir diese Festschrift bietet, Dir meine herzlichen Glückwünsche zu Deinem fünfundachtzigsten Geburtstag auszusprechen und meiner Freude Ausdruck zu geben, daß Du diesen Tag als inzwischen weltweit vielfältig geehrter Computerpionier verleben kannst. Dennoch finde ich die Tatsache, daß Du in der Öffentlichkeit im wesentlichen als derjenige gefeiert wirst, der 1941 mit der Z3 den ersten voll funktionsfähigen Computer entwickelt und gebaut hatte, noch nicht sehr befriedigend, denn Deine Pionierleistung geht ja weit darüber hinaus.

Schon die Z1 von 1938, und nicht erst die drei Jahre jüngere Z3, besitzt schon die Eigenschaften, die Dich als genialen Denker, Erfinder und Ingenieur ausweisen. Deine schöpferische Potenz zeigt sich an der Z1 dadurch, daß Du zur Lösung des von Dir angegangenen Problems, nämlich umfangreiche numerische Rechnungen zu automatisieren, die hergebrachten Techniken allesamt in Frage gestellt und etwas völlig neues geschaffen hast.

Du hast Dich nicht wie die ersten, wenn auch einige Jahre späteren, amerikanischen Gomputerpioniere Alken und Stibitz, darauf beschränkt, das Konzept der Lochstreifensteuerung mit relativ konventionellen technischen Elementen für die Speicherung und arithmetische Verknüpfung von Zahlen zu verbinden, Du hast vielmehr in konsequenter Anwendung Deiner Erkenntnis, daß logische und arithmetische Operationen gleichermaßen auf wenige elementare Operationen an binären Größen zurückgeführt werden können, das Dualsystem aufgegriffen, mit der Gleitpunktdarstellung (der "halblogarithmischen" Darstellung) der Zahlen eine besonders redundanzarme Zahlendarstellung erfunden, eine durch systematische Kodierung hochverdichtete interne Maschinenstruktur entwickelt und eine zur physischen Realisierung solcher Strukturen mechanische "Schaltgliedtechnik" geschaffen.

Dies alles führte zu einem, auch nach heutigen Maßstäben, für einen mechanischen Rechner dieser Komplexität unglaublich kompakten und mit elementaren Werkzeugen zu fertigenden Rechenautomaten.

Auch eine weitere Deiner Pionierleistungen sollte breiter gewürdigt werden, nämlich daß Du mit dem "Allgemeinen Plankalkül" 1945 eine erste höhere Programmiersprache entwickelt hast. Das ist zwar unter Fachleuten bekannt, aber auch von diesen wissen nicht allzuviele, wie modern dieser Plankalkül beispielsweise mit seinen Möglichkeiten der hierarchischen Erzeugung beliebiger baumartiger Datenstrukturen ist.

Noch weniger ist im Bewußtsein der Öffentlichkeit, auch der Fachöffentlichkeit, verankert, daß Du schon in den, dreißiger Jahren das numerische Rechnen als Spezialfall des "allgemeinen Rechnens", der allgemeinen Symbolmanipulation, gesehen hast, während man sich in den USA erst viel später gedanklich aus dem Umfeld des numerischen Rechnens zugunsten allgemeinerer Paradigmen gelöst hat.

Gleichfalls ist weithin unbekannt, daß Du - dokumentiert seit 1936 - die interne Speicherung von Programmen in der Art der Speicherung von Daten diskutiert und spätestens in Deinen Notizen vom 4. und 6. Juni 1938 das Konzept der Rückkoppelung von Eingangsdaten und Zwischenergebnissen auf das laufende Programm beschrieben hast. Hättest Du dieses Prinzip in einem (für Dich, wie Du immer gesagt hast, sehr naheliegenden) gerätetechnischen Beispiel noch konkreter spezifiziert, würde man heute nicht vom "von Neumann-Rechner" sprechen - ein Etikett das, bei allem Respekt vor John von Neumann, ohnehin sehr problematisch ist.

Du warst Dir jedenfalls - lange vor Deinen späteren Konkurrenten - schon damals der Bedeutung dieses gedanklichen Schrittes wohl bewußt und hast immer wieder darauf hingewiesen, daß es diese "unstarren" Programmabfläufe sind, auf die es bei intelligenten Anwendungen der Rechenauomaten ankommt und daß Dein Plankalkül eine systematische Anweisung zur Konstruktion und Beschreibung solcher Programme ist.

Es ist sehr bedauerlich, daß die unglaublich kargen Hilfsmittel, mit denen Du seinerzeit auskommen mußtest, die Idee, einen passenden Speicher und damit eine speicherprogrammierte Maschine zu entwickeln, gar nicht erst aufkommen ließen.

Es ist darüber hinaus unbekannt, daß Du 1956 mit dem Konzept des "Feldrechners" den Prototypen der ersten "Superrechner"-Generation entworfen hast. Diese "Vektorrechner" besaßen die von Dir vorgeschlagene Grundstruktur.

Ich möchte nun einen Schritt weitergehen und darauf hinweisen, daß es für Dich keine abstrakte Gedankenspielerei war, wenn Du die Bedeutung der Rechenmaschinen weit über die Numerik hinaus gesehen hast. Du hast vielmehr in den dreißiger und vierziger Jahren, bedeutend früher als andere eine Fülle von sehr konkreten Ideen entwickelt (und aufgeschrieben), wo und auf weiche Weise die Rechner außerhalb des Zahlenrechnens einmal große praktische Bedeutung erlangen könnten.

Du hast also angesichts der frühen Phase, in der sich die Computerentwicklung um 1940 herum befand, ein beachtliches und in Anbetracht der tatsächlichen Entwicklung der folgenden Jahrzehnte ein erstaunlich treffsicheres "Technology Assessment" betrieben. Dabei hatten es Dir folgende Anwendungsbereiche besonders angetan:

  • Die symbolische Manipulation algebraischer Ausdrücke, also z.B. das Umordnen, Vereinfachen und Differenzieren solcher Ausdrücke - soweit es die Algorithmen hergeben, vollautomatisch, sonst im Dialogbetrieb.

  • Die symbolische Manipulation logistischer Ausdrücke auch mit Blick auf automatische Beweisverfahren.

  • Die Erzeugung von Maschinenprogrammen aus formelmäßig notierten Algorithmen.

  • Betriebswirtschaftliche Aufgaben mit Ihren nicht-numerischen Verfahrensanteilen, z.B. aus den Steuergesetzen.

  • Die rechnergestützte Konstruktion im Maschinenbau. Hier hast Du den Ersatz der Zeichnungen durch "Strukturformeln" zur Beschreibung von Konstruktionsteilen gefordert. Die geometrischen Strukturen solcher Teile hast Du additiv oder subtraktiv aus Elementarstrukturen (Prismen, Zylinder, Kugeln etc.) zusammengesetzt. Weitergehende Berechnungen sollten dann auf der Basis dieser Strukturformeln automatisch durchgeführt werden.

  • Rechnergesteuerte Werkzeugmaschinen. Hier sollten die Steuerprogramme automatisch aus den Strukturformeln der Konstruktion ,,berechnet" werden.

  • Bei der Baukonstruktion sollte die Struktur des Bauwerks ebenfalls in Strukturformeln statt in Zeichnungen erfaßt werden. Die für die statischen Berechnungen benötigten Programme sollten automatisch aus den Strukturformeln erzeugt werden.

  • Immer wieder hast Du Dich auf das Schachspiel bezogen, das Du sozusagen als Wetzstein für das von Dir entwickelte Instrumentarium benutzt hast. So enthält Deine Schrift Über den Allgemeinen Plankalkül von 1945 dann auch einige Schachprogramme, allerdings zunächst nur zur Erzeugung von Aussagen über korrekte Zugmöglichkeiten und noch keine Zugvorschläge.

    Lieber Kuno, ich hoffe, dies macht deutlich, warum ich meine, daß Du mit dem Etikett ,,Erbauer des ersten Computers" bei weitem noch nicht angemessen gewürdigt bist: Es fehlen ganz wesentliche Aspekte Deines genialen Wirkens, die um so höher einzuschätzen sind, als in den dreißiger Jahren ganz offensichtlich die interlektuelle Hemmschwelle für das Verständnis von Rechenautomaten und deren Anwendungspotential noch außerordentlich hoch war, viel höher als wir uns, oder gar unsere Kinder sich das heute vorstellen können.

    Immerhin hatte Charles Babbage schon hundert Jahre zuvor das Grundkonzept des bandgesteuerten Rechners geschaffen. Er war zwar inzwischen fast, aber eben doch nur fast in Vergessenheit geraten. Er war Dir unbekannt, aber ein so bekannter und einflußreicher Ingenieur wie Torres y Quevedo hatte es gekannt und zwanzig Jahre vor Dir öffentlich über den Bau einer solchen Maschine mit den "modernen" Mitteln der Elektrotechnik nachgedacht.

    Dennoch warst Du etwa hundert Jahre nach der Erfindung des Relais, vierzig Jahre nach dem Beginn der massenhaften Verwendung solcher Relais in der Telephonvermittlungstechnik und etwa zwanzig Jahre nach dem Beginn der Serienproduktion elektronischer Gleichrichter und Verstärkerröhren der erste, der eine solche Maschine gebaut hat. Es war offenbar auch kein Zufall, sondern symptomatisch, daß eine umfangreiche, von bedeutenden Wissenschaftlern im Auftrage von Präsident Roosewelt angefertigte Studie "Technological Trends and National Policy ..." im Jahre 1937 ausführlich und vielfach treffsicher wichtige künftige Entwicklungen, etwa in der Elektronik, beschrieb, das automatisierte Rechnen aber überhaupt nicht erwähnte.

    Du wurdest, wie Du oft plastisch erzählt hast, bei der Darlegung Deiner Vorstellungen in der Regel nicht ernst genommen - und wir sollten uns hüten, anzunehmen, daß Deine Gespächspartner damals alle Dummköpfe gewesen seien. Selbst die heute hochberühmten amerikanischen Computerpioniere haben Ihre Maschinen unter, im Verhältnis zu Dir, sehr begrenzten Perspektiven entwickelt.

    So wird ja von Howard H. Alken berichtet, daß er noch 1946, als die ENIAC schon in vollem Betrieb war, argumentierte, der Bau sehr schneller Maschinen sei kontraproduktiv, weil die Zeit der Programmierung einer Aufgabe die Laufzeit des Programms um Größenordnungen überstiege. Er glaubte, daß man seine MARK 1 am besten zur Produktion von Tafeln einsetzen sollte, die dann von menschlichen Rechnern benützt werden könnten.

    Es wird nun vielfach vermutet, daß es nicht intellektuelle, sondern wirtschaftliche Hemmnisse waren, die der Ausbreitung solcher Ideen und Entwicklungen im Wege standen, daß also erst im Zweiten Weltkrieg der enorme Bedarf an ballistischen Tafeln in den Vereinigten Staaten die Basis für einen realen Durchbruch dieser Technik geschaffen hat, die dann im Zuge der technischen Reife und des weiter steigenden Rechenbedarfs bei den Naturwissenschaftlern und Ingenieuren wirtschaftlich wurde.

    Ich sehe das ganz anders: Der Bedarf wurde im Kriege in Amerika so groß, daß selbst, verglichen mit Deinen Ansätzen, derart unwirtschaftliche Vorhaben wie die von Alken, Stibitz und dann der ENIAC mit Ihren 18000 Röhren realisiert werden konnten, oder besser mußten.

    Wären unseren Vätern und Großvätern jedoch die Idee des programmierten Rechnens und die - uns heute so selbstverständlichen Strukturelemente für dessen hard- und softwaremäßige Realisierung nicht so fremd gewesen, wären wohl schon in den zwanziger Jahren vernünftige Rechenautomaten der von Dir dann zwanzig Jahre später realisierter Art entstanden, für die bei den auch damals schon hoch entwickelten quantitativen Methoden der Naturwissenschaften und Technik ein finanzierbarer Bedarf vorhanden gewesen wäre. Für die Datenverarbeitung in der Verwaltung gilt dies auch, obgleich dort das Speicherproblem in anderer Form sehr früh zu einem Engpaß geführt hätte.

    Aber auch für die magnetische Datenspeicherung waren in den dreißiger Jahren, insbesondere mit dem technischen Durchbruch der AEG und der BASF, der sich in der Vorstellung des "Magnetophons" auf der Funkausstellung von 1936 manifestierte, alle wesentlichen Voraussetzungen geschaffen. Es ist überhaupt nicht zu erkennen, warum dies bei einer für die Idee des programmgesteuerten Rechnens resonanzfähigen Umwelt nicht im Laufe der dreißiger Jahre zu einem breiten Einsatz in der öffentlichen und privaten Verwaltung (Betriebswirtschaft) und zum speicherprogrammierten Rechnen hätte führen sollen.

    lnteressieren uns solche Fragen nur historisch,? Ich, meine, nein! Sie sind sicher ein Lehrstück für die Blindheit jener Zeit und wohl jeder Zeit - gegenüber sich anbahnende Entwicklungen, selbst zu Zeiten, wo solche Entwicklungen in vielerlei Hinsicht überreif sind, und selbst dann, wenn es sich nicht um irgendwelche Nebenäste, sondern um den Hauptstrom bedeutender, unser Leben gründlich verändernder Entwicklungen handelt.

    Wir müssen wohl vermuten, daß auch wir ganz wesentliche Entwicklungen nicht nur in Ihren Auswirkungen falsch beurteilen, sondern wie die Autoren des oben genannten Berichtes, gar nicht sehen - trotz allen technology assessments. Dies ist beunruhigend und sollte uns bewegen, sehr aufmerksam und offen zu bleiben auch gegenüber Denkansätzen, die zunächst, weil ungewohnt, befremden. Zum anderen ist es aber auch beruhigend, daß trotz aller weltweiten Anstrengungen von hunderttausenden von Wissenschaftlern und Ingenieuren, hellsichtige und schöpferische Menschen wie Du, lieber Kuno, allein oder in sehr kleinen Gruppen die Menschheit sehr gründlich überraschen können.